Braucht es Pädagogische Ethik? Überlegungen zu Notwendigkeit und Nutzen einer Berufsethik für Pädagog:innen

Beitrag von Laura Kirsch (Studierende der HSE-Zusatz-/Querschnittsqualifikationen “Ethische Herausforderungen im schulischen Kontext”) |

Zu den Metafragen pädagogischer Ethik gehört, ob es überhaupt erforderlich ist, eine spezifische Ethik für den pädagogischen Bereich zu entwickeln – und, falls ja, diese im Lehramtsstudium zu verankern. Das würde implizieren, dass die ethischen Prinzipien des pädagogischen Handelns sich von allgemeinen ethischen Grundsätzen unterscheiden oder zumindest nicht ausreichend durch diese abgedeckt werden können. In anderen Professionsfeldern sind spezielle Ethiken bereits etabliert, etwa die Bioethik, Medizinethik oder Wirtschaftsethik. Eine explizite pädagogische Ethik scheint demgegenüber bisher weit weniger Beachtung gefunden zu haben. Das zeigt sich nicht zuletzt daran, dass es – soweit mir bekannt – an Hochschulen oder erziehungswissenschaftlichen Instituten keine eigenständigen Lehrstühle für pädagogische Ethik gibt.

Pädagogische Ethik als disziplinäre Selbstkontrolle

Der Vorteil einer disziplinären Selbstkontrolle liegt darin, dass Fachexpert:innen selbst ethische Standards für ihre wissenschaftliche Forschung festlegen können, ohne dass Nicht-Expert: innen aus der Politik, anderen Fächern (z.B. Philosophie) oder anderen institutionellen Zusammenhängen (z.B. Kirche) maßgeblichen Einfluss nehmen. Vielmehr können Fachleute der jeweiligen Gebiete selbst die praktischen Auswirkungen ihrer Forschungen auf die Natur und das soziale Miteinander der Menschen reflektieren.

Es stellt sich die Frage, warum pädagogische Ethik bisher institutionell wenig gefestigt ist und welche Auswirkungen dies für die pädagogische Theorie und Praxis hat. Wäre eine eigenständige pädagogische Ethik nicht ebenso wichtig, um ethische Standards für die Bildung und Erziehung festzulegen und sicherzustellen, dass diese den besonderen Anforderungen des pädagogischen Bereichs gerecht werden? Die folgenden Überlegungen wollen dazu anregen, nach der Bedeutung einer spezialisierten pädagogischen Ethik zu fragen und möglicherweise neue Forschungsansätze in diesem Bereich zu anzuregen.

Pädagogische Ethik bezieht sich vorrangig auf persönliche Interaktionen, die unter Einbeziehung pädagogischer Grundprinzipien wie dem Verzicht auf Gewalt sowie dem pädagogischen Ethos derjenigen, die für Erziehung und Bildung verantwortlich sind, stattfinden. Es geht um mehr als nur um das Funktionieren von Bildungssystemen, sondern um eine ethische Grundlage für die Interaktionen im pädagogischen Feld.

Die ethischen Fragen, die im Kontext der Pädagogik auftauchen, scheinen bereits in den allgemeinen pädagogischen Reflexionen ihren Platz gehabt zu haben. Allerdings ist zu erkennen, dass diese Fragen im Laufe der Zeit, parallel zum Bedeutungsverlust der allgemeinen Pädagogik, seltener gestellt werden.

Historische Wurzeln einer pädagogischen Bereichsethik

Die enge Verknüpfung zwischen Pädagogik und Ethik reicht weit zurück. Immanuel Kant und Jean-Jacques Rousseau prägten einst maßgeblich die Zielsetzungen von Erziehung. Kant strebte danach, Menschen zur Selbstbestimmung zu verhelfen und legte dabei eine auch ethische Grundaporie der Pädagogik frei: „Wie kultiviere ich die Freiheit bei dem Zwange?“ Auf der anderen Seite betonte Rousseau die Selbstregulierung als Erziehungsansatz. Beide Philosophen hinterließen unterschiedliche Spuren in der Pädagogik,

Niklas Luhmann unterstreicht, dass Kants Philosophie der Pädagogik ein theoretisches Fundament verleiht und sie somit zu mehr als einer Sammlung praktischer Erfahrungen macht. Die These, dass Sittlichkeit auf Erziehung beruht, prägte später die Ausrichtung von Pädagogen, die Kants Philosophie als Grundlage betrachteten. Friedrich Schleiermacher wiederum bezeichnete die Ethik als Grundwissenschaft der Pädagogik, da es darum geht, Menschen zu vernünftigen Wesen zu formen, die nach dem Kategorischen Imperativ von Kant handeln können.

Die Frage nach den idealen Erziehungszielen ist ein ethisches Dauerthema in der Pädagogik. Die Erziehungswissenschaft setzt Ziele, die von praktizierenden Pädagogen umgesetzt werden sollen. Dieser Übergang gestaltet sich jedoch oft schwierig, und die Spannung zwischen wissenschaftlichen Idealen und praktischer Umsetzung ist eine bleibende Herausforderung.

Herbart sieht Moralität als ein vorgegebenes Erziehungsziel, abgeleitet aus der philosophischen Ethik. Pädagogik als Wissenschaft hängt laut ihm von Psychologie und Ethik ab, wobei die Ethik den Zweck des pädagogischen Tuns bestimmt. Eine ähnliche Perspektive vertritt Wilhelm Dilthey, der betont, dass Moral nicht in einem starren kategorischen Imperativ festgelegt werden kann. Stattdessen entwickelt sich Moral über Jahrtausende durch kulturelle Überlieferungen, die von Generation zu Generation weitergegeben und neu interpretiert werden.

In den Zwanziger- bis Sechziger-Jahren des letzten Jahrhunderts entstand eine geisteswissenschaftliche Pädagogik, die von Diltheys Ideen beeinflusst war. Diese Pädagogik, vor allem in der Universitätspädagogik präsent, betrachtete sich als hermeneutisch, stellte jedoch fest, dass sie sich methodologisch unzureichend mit den Abhängigkeiten ihrer Theorien von politischen und sozialen Umständen auseinandersetzte.

Um dieses Defizit zu überwinden, entwickelten Erziehungswissenschaftler und Pädagogen wie Wolfgang Klafki und Klaus Mollenhauer eine Pädagogik, die sich von den engen Grenzen traditioneller geisteswissenschaftlicher Ansätze löste. Diese neue Ausrichtung stellte die Pädagogik unter den Leitgedanken individueller Emanzipation und gesellschaftlichem Fortschritt, wobei Konzepte wie die antiautoritäre Erziehung an Bedeutung gewannen. Insgesamt spiegeln diese Entwicklungen die kontinuierliche Suche nach einem angemessenen ethischen Fundament für die Pädagogik wider.

Unabhängig von der persönlichen Ansicht bleibt pädagogisches Handeln stets in einem ethischen Kontext verankert. Selbst wenn es den Anspruch eines moralischen Gesetzes in Frage stellt, bewegt es sich dennoch innerhalb eines historisch gewachsenen und gesellschaftlich vermittelten Normengerüsts. Diese Dynamik könnte erklären, warum die pädagogische Ethik bisher nicht zu einer eigenständigen Bereichsethik entwickelt und auch institutionell eigenständig verankert wurde. Die ethischen Maßstäbe für den Unterricht werden nicht ausschließlich von der Wissenschaft der Erziehung des Menschen festgelegt, sondern vielmehr von der Gesellschaft und dem politisch umgesetzten gesellschaftlichen Zeitgeist.

Pädagogisches Ethos und pädagogisches Manifest

Wenn unter pädagogischer Ethik ein „eigener Bereich der Reflexion“ verstanden wird, der sich intensiv mit der Ethik des Lehrens auseinandersetzt und Fragen nach spezifischen moralischen Grundsätzen für pädagogisch Handelnde, Bildungsziele, Lehrinhalte, Unterrichtsmethoden, administrative Entscheidungen und den Lehrenden selbst aufwirft, öffnet sich ein weiter Fragehorizont. Innerhalb dessen besteht ein breites Aufgabenspektrum pädagogischer Ethik. Dazu gehören die Prüfung der Legitimation von Erziehungs- und Bildungszielen, die Überprüfung der Lehrinhalte, die Evaluierung der Lehrmethoden, die Untersuchung administrativer Vorgaben sowie die kritische Betrachtung des pädagogischen Ethos – oder vielleicht eines Pädagogischen Manifests? Sollten sich Pädagog:innen, ähnlich wie Mediziner:innen, auf einen Eid einigen?

So weit muss es nicht unbedingt gehen, aber jeder (angehende) Pädagoge und jede (angehende) Pädagogin sei angesprochen, sich mit den eigenen ethischen Grundsätzen auseinanderzusetzen und darüber nachzudenken, welche Werte Sie im pädagogischen Kontext vertreten und leben möchten – als Lehrkraft und als Vorbild.

Pädagogische Ethik ist von essenzieller Bedeutung, da sie sich mit der Frage auseinandersetzt, wie wir ethisch reflektiert lehren, lernen und erziehen können. Es geht darum, im Bildungsbereich gute Entscheidungen zu treffen. Auch wenn Pädagogische Ethik möglicherweise nicht im Regelstudium verankert ist, sollte doch jede(r) zumindest einmal darüber nachdenken und sich bewusst sein, welche zentralen ethischen Grundsätze er oder sie im Klassenzimmer vertritt. Denn letztlich liegt darin der Schlüssel zu einer verantwortungsbewussten und wirkungsvollen pädagogischen Praxis.

Quellen:

• Beutler, K., Horster, D. (1996). Pädagogik und Ethik. Stuttgart: Reclam.
• Reitemeyer, U. (o.D.). Pädagogische Ethik. Westfälische Wilhelms-Universität Münster: Institut für Erziehungswissenschaft.
• Werner, M. (2021). Einführung in die Ethik. Stuttgart: Springer.